Historisch breite Medienallianz sieht kritischen Qualitätsjournalismus in Gefahr

Medienmitteilung zur Änderung der Zivilprozessordnung, Artikel 266 «Massnahmen gegen Medien»

Eine historische breite Allianz der Medienbranche, darunter auch das SSM, ist sich einig, dass die Pressefreiheit in der Schweiz ein besonders wichtiges und besonders geschütztes Gut ist. Sie sieht dieses Gut aber zumindest teilweise in Gefahr. Die Allianz fordert daher vom Nationalrat, an der kommenden Sondersession am 10. Mai von einer Verschärfung der Zivilprozessordnung, Artikel 266 «Massnahmen gegen Medien» abzusehen.

Am 3. Mai war der internationale Tag der Pressefreiheit. Aktuelle Ereignisse
wie die Diskussion um den Einfluss des Bankengesetzes auf Suisse Secrets und insbesondere die russische Propagandamaschinerie rund um den Ukraine-Krieg betonen, wie wichtig eine uneingeschränkt funktionierende und freie Medienlandschaft ist.

Der Ständerat sowie beide Rechtskommissionen (RK-N und RK-S) schlagen in der Revision der ZPO bei Art. 266 («Massnahmen gegen Medien») vor, die Hürde für vorsorgliche Massnahmen gegenüber von Medienberichten massiv zu senken. Eine Rechtverletzung durch redaktionelle Berichterstattung soll nicht mehr «einen besonders schweren Nachteil», sondern nur noch «einen schweren Nachteil» verursachen müssen, um richterliche Massnahmen gegen eine Veröffentlichung zu ermöglichen.

Das Streichen des Wortes «besonders» hätte einen enormen Einfluss auf die Gerichtspraxis und damit schwerwiegende negative Konsequenzen für die verfassungsmässig gewährleistete Medienfreiheit in der Schweiz. Die Allianz forderte Ende letzter Woche den Nationalrat in einem Brief auf, bei Art. 266, lit. a. der Minderheit und damit dem Bundesrat zu folgen.

Einschränkung der Medienfreiheit trotz bewährtem Status Quo
Heute kann jede Person vor Gericht eine Nicht-Veröffentlichung von redaktionellen
Beiträgen verlangen, wenn sie davon direkt betroffen ist. Dazu bedarf es eines qualifizierten Nachteils, damit die Gerichte eine superprovisorische Massnahme aussprechen. Der bestehende Wortlaut ist in der aktuellen, funktionierenden Gesetzgebung bewusst gewählt, um die journalistische Berichterstattung vor übermässigen und unverhältnismässigen Eingriffen zu schützen.

Neu wären solche Massnahmen durch die Gerichte einfach zu erwirken. Die Änderung würde demnach Tür und Tor öffnen für das vorschnelle Stoppen missliebiger, kritischer Recherchen. Das würde alle Medienschaffenden in der Schweiz betreffen. Diese Gefährdung der Medienfreiheit ist hoch problematisch und hat auch Folgen für die freie Meinungsbildung und Meinungsäusserung – auch anerkannt von der Europäischen Menschenrechtskonvention in Artikel 10 – als Grundpfeiler der Schweizer Demokratie.

Der Änderungsvorschlag der Kommission bricht ein Gleichgewicht, das seinerzeit von zwei aufeinanderfolgenden Expertengruppen sehr sorgfältig ausgearbeitet wurde – und sie tut dies ohne jegliche Prüfung durch die Verwaltung oder durch Expertinnen und Experten. Dabei gibt es mit Blick auf die herrschende Berichterstattung in der Schweiz keinen Grund, eine solche Einschränkung der Medienfreiheit zu fordern: Medienberichten sind durch die bestehenden gesetzlichen Grundlagen bereits heute klare Grenzen gesetzt, Betroffene
werden geschützt und können sich wehren. Die Medienbranche kennt zudem
funktionierende Selbstregulierungsmechanismen – etwa den Schweizer Presserat oder die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» – und Journalistinnen und Journalisten wägen die beteiligten Interessen (Recht der Öffentlichkeit auf Information, Schutz der Privatsphäre) in ihrer täglichen Arbeit sorgfältig ab.

Aufwändige Gerichtsverfahren drohen
Die von der RK-S vorgeschlagene Änderung des Wortlautes hat gemäss juristischen Einschätzungen einen enormen Einfluss auf die gängige Gerichtspraxis und würde zu Massen an Verfahren führen, die gerade für kleine oder lokale Medientitel nicht zu bewältigen wären. Gerichtsverfahren sind oft kostspielig und ressourcenintensiv. Das kann schnell zu einem Ungleichgewicht zwischen Kläger und Beklagtem führen.
Gerade für kleine Titel bedeuten solche Verfahren oft einen zu grossen Aufwand. Selbst wenn Journalistinnen und Journalisten vor Gericht Recht bekommen, wirken die Verfahren ermüdend und abschreckend. Zudem ist ein redaktioneller Beitrag, der für Monate oder gar Jahre gesperrt wird, bei Wiederveröffentlichung oft kaum mehr aktuell oder relevant.

So war beispielsweise das auf Wirtschaftskriminalität spezialisierte Online-Magazin Gotham City in den letzten Jahren Gegenstand zahlreicher Klagen auf einstweilige Verfügungen, obwohl sich seine journalistische Arbeit ausschließlich auf öffentlich zugängliche, offizielle Gerichtsquellen stützt. Obwohl das Onlinemedium in der klaren Mehrheit der Fälle Recht bekommen hat, kostet sie jede vorsorgliche Massnahme Zeit und Geld.

Allzu oft werden vorsorgliche Maßnahmen zu einem Zweck eingesetzt, der nicht der Norm entspricht: als Verzögerungstaktik, um Zeit zu gewinnen. Im Jahr 2021 wollte diese Zeitschrift die Verurteilung eines in der Schweiz ansässigen indonesischen Geschäftsmanns, der im Palmölhandel tätig war, wegen Steuerbetrugs aufdecken. Dieser beantragte vorsorgliche Massnahmen, um die Veröffentlichung des Artikels vor der Abstimmung über das Freihandelsabkommen mit Indonesien zu verhindern. Obwohl das Onlineportal erfolgreich war, konnte der Artikel – auf offiziellen Gerichtsquellen beruhend – erst nach mehreren Wochen veröffentlicht werden.

Version des Bundesrates unterstützen
Investigativer und freier Journalismus ist mit seiner Wächterfunktion unabdingbar in einer Demokratie, erst recht in einer direkten wie der unseren. Die Allianz bittet den Ständerat sehr, den Medienschaffenden in der Schweiz nicht unnötige Hürden in ihrer für die Demokratie zentralen Arbeit aufzustellen.

Mit einer weiteren Änderung ist die Allianz demgegenüber einverstanden: Im Unterschied zum bestehenden Recht will der Bundesrat Artikel 266 insofern ändern, als nicht nur wie bis anhin eine drohende, sondern neu auch eine bestehende Rechtsverletzung dem Gesuchsteller oder der Gesuchstellerin einen besonders schweren Nachteil verursachen kann. Damit wird eine seit Jahren bestehende Gerichtspraxis ins Gesetz geschrieben.

Schweizer Medien – Médias Suisses – SSM – syndicom – impressum – Telesuisse – Radio Régionales Romandes – Junge Journalisten Schwewiz – Reporter sans forntière – Öffentlichkeitsgesetz.ch – Schweizer Presserat – media forti – MAZ – lobbywatch.ch – GOTHAM CITY – media per tutti – Verband Schweizer Online-Medien – Verband Medien mit Zukunft – investigative.ch

Medienmitteilung zur Änderung der Zivilprozessordnung, Artikel 266 «Massnahmen gegen Medien», 3. Mai 2022: Historisch breite Medienallianz sieht kritischen Qualitätsjournalismus in Gefahr

Schreiben an Nationalrat, 2. Mai 2022: Aufruf Medien-Allianz gegen Änderung Artikel 266 Zivilprozessordnung

 

 

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